Eine Betrachtung des Wachtturm-Artikels vom 15. September 2014 „Eltern: seid die Hirten eurer Kinder“
Stellen Sie sich einen Vater vor, der als Clubmitglied in seinem Sport-Team aktiv ist, und seinen Sohn von Kindesbeinen an mitgenommen hat. Ganz allmählich wächst mit der Zeit auch seine Begeisterung für das Team und den Sport, so dass Vater und Sohn jedes Spiel ihres Clubs gemeinsam verfolgen.
Irgendwann wird sein Herz für seinen Verein schlagen, in dem er groß geworden ist, und so entsteht zusammen mit seinen Kameraden ein eingeschworener Kreis begeisterter Fans, die ihrem Club entschlossen die Treue halten.
Die Konditionierung
Solche geschlossenen Gesellschaften haben oft die Funktion eines Kastenkollektivs. Der große Unterschied zu unserem oben erwähnten Sportverein besteht jedoch darin, dass eine totalitär organisierte religiöse Elite die Menschen durch ein psychologisch höchst wirksames Bündel an Maßnahmen zusammenhält und am Weglaufen hindert. Zu diesen Maßnahmen zählen private und öffentliche Rügen, die Vorenthaltung begehrter Dienstvorrechte oder ihre Suspendierung bis hin zum Ausschluss mit der totalen Ächtung.
Was führt nun die Menschen trotz all der bekannten Widrigkeiten dazu, sich einer solchen Gruppe anzuschließen?
Analog zur Konditionierung junger Menschen in einem Sportverein werden auch Kinder von Zeugeneltern beim Heranwachsen durch ihre vertraute Umgebung in vergleichbarer Weise konditioniert. Der regelmäßige Aufenthalt im Kreis der Mitgläubigen bei stundenlangem Ruhigsitzen, wenn vorne im Saal der Redner am Pult steht und seinen Vortrag hält, das regelmäßige Familienstudium, gepaart mit der fortgesetzten Ermahnung der Eltern sich an die Standards des Sklaven zu halten und die viele Zeit im Predigtdienst bleiben bei einem Kind natürlich nicht ohne Wirkung.
Ständig bekommt es dabei zu hören, dass es nur bei absolutem Gehorsam und tief empfundener Liebe zu Jehova und seiner Organisation schließlich überleben und ins neue System kommen kann. So werden Leitbilder verinnerlicht, die das Kind ständig vor Augen hat und von deren Suggestivkraft es sich alleine nicht mehr lösen kann. Wenn in Harmagedon alle anderen außer den Zeugen umkommen werden, wird das brave Kind zusammen mit den vertrauten Brüdern gerettet werden. Wie beim eingangs erwähnten Sportverein, so bildet sich bei den Zeugenkindern nach und nach eine feste gedankliche Verbindung zwischen ihrer Religion und einem bunten Strauß an positiven Zukunftsaussichten, wenn es nur in Herz und Sinn die Liebe zu Jehova und dem sichtbaren Teil seiner Organisation entzündet und diese Flamme ständig am Lodern hält. Solchermaßen konditioniert, ist man auch bereit so manche Kröte zu schlucken.
Das Ziel dieses Wachtturm-Artikels
Um dieses Ziel zu erreichen, hebt der Wachtturm-Artikel psychologisch geschickt besonders auf die einfühlsamen Kontakte der Eltern zu ihren Kindern ab, und wie sie es vor allem in der Pubertät mit Geduld, Verständnis und Einfühlungsvermögen anstellen sollten die Zunge ihrer Kinder zu lösen, um sie dazu zu bringen über ihre Probleme zu sprechen. Es ist wichtig die Gefühle und Beweggründe zu verstehen, die ein Kind davon abhalten könnten in die Fußstapfen eines tüchtigen Zeugen und Verkündigers zu treten. Wo dieses Urvertrauen fehlt, lässt es sich auch nicht so einfach in einer besinnlichen Stunde herstellen. Vertrauen aufzubauen braucht eben Zeit, kann aber in einem Nu wieder zerstört werden.
Mit dem Gleichnis vom einfühlsamen Hirten und seinen Schafen appelliert man an die Eltern. Da heißt es etwa, „Kinder sind satanischen Einflüssen ausgesetzt und haben unvollkommene Neigungen.“ Da sei es keine leichte Aufgabe, „sie in der Zucht und ernsten Ermahnung Jehovas aufzuziehen.“ Hier liege vor allem auf den Schultern des Vaters in seiner Eigenschaft als geistiger Hirte seiner Kinder eine schwere Verantwortung.
Dann werden besonders diese drei Bereiche der elterlichen Erziehungsaufgabe herausgestellt: Es gilt die Kinder zu kennen, sie geistig zu ernähren und sie anzuleiten.
Der Artikel gerät so zu einer einzigen praktischen Anweisung für die Zeugeneltern, um ihre Kinder im Sinne der Wachtturm-Gesellschaft zu konditionieren. Der Wortbedeutung nach ist das nichts anderes als eine „Konfirmation“, wörtlich also ein „sicheres Anbinden“ oder das „Sichern für die Kirche“, in der ein Kind aufwächst; es soll sein ganzes Leben in den Dienst dieser Kirche stellen und mit ihr verbunden bleiben. Ein Zeuge würde hier empört widersprechen und behaupten, dass es nicht die Kirche oder Organisation ist sondern Jehova, wo für die WTG in Wirklichkeit doch beides dasselbe ist.
Manipulation zu einer unverbrüchlichen Gefolgschaft
Der Artikel ermutigt die Eltern ihre Kinder „anzuleiten“, um bei ihnen den “echten Wunsch” zu entwickeln der Organisation bzw. Jehova zu dienen und ihr Leben in ihren bzw. seinen Dienst zu stellen. Die Organisation selbst stellt sich ja ständig an die Seite und auf die Augenhöhe mit Jehova. Will sie ihrer Empfehlung mehr Gewicht verleihen, verschanzt sich die WTG dann allzu gerne hinter der Autorität Jehovas – sein Wunsch sei es, so und so zu handeln.
Angesichts schwindender Mitgliederzahlen mit Schwerpunkt bei den jugendlichen Verkündigern hat sich die WTG wohl etwas näher mit deren Sorgen, Ängsten und Zweifeln beschäftigt, wie die Abschnitte 15 und 16 erkennen lassen, Zitat: „Doch was, wenn die Kinder in der Zwischenzeit Zweifel äußern? Wie könnt ihr sie so hüten, dass sie verstehen: Jehova zu dienen, ist wirklich der beste Lebensweg und führt zu ewigem Glück?
Versucht herauszufinden, weshalb sie Zweifel haben. Stimmt beispielsweise der Sohn wirklich nicht mit den biblischen Lehren überein oder traut er sich nur nicht zu, sie vor seinen Mitschülern zu verteidigen? Zieht die Tochter tatsächlich die Weisheit göttlicher Maßstäbe in Zweifel oder fühlt sie sich einsam oder ausgegrenzt?
Ganz gleich, woher die Zweifel kommen, ihr könnt eurem Kind helfen, die Ursachen anzugehen.- Seiten 20-21.
Zweifel sind eine ganz böse Sache, und darüber zu sprechen, birgt so einige Gefahren in sich. Während man schreibt, für die Kinder und ihre Vorbehalte Verständnis zu haben, lässt man den Eltern in Wirklichkeit aber gar keinen Spielraum. Allzu häufig verfallen gerade sie in Hysterie, um ihren Kindern einzubläuen, wofür es keine Alternative zu geben scheint. Sehr geschickt stellt man die Vorgaben der WTG jeweils auf ein biblisches Fundament und bedient sich der Autorität Jehovas, um damit eisern die eigene Schiene zu verteidigen und die häufig eingeschüchterten Kinder mit rhetorischen Wendungen zu überfahren.
Sind die geschriebenen Empfehlungen im Wachtturm noch sanft abgefasst, geraten neben den Reden von der Bühne herab wie auch die eindringlichen Ratschläge WT-höriger Eltern im Vergleich dazu doch erheblich eindringlicher und schärfer.
Auf die Frage, „wie denkst du darüber ein Diener Jehovas zu sein?“, wird ein junger Mensch, der ständige, gut gemeinte Ermahnungen über sich ergehen lassen musste, kaum den Mut aufbringen etwa zu antworten: „Das ist eben nicht mein Weg, ich habe in meinem Leben anderes vor.“ Die Erwartungshaltung und die Stimmung der Eltern wird das Kind wie beabsichtigt reagieren lassen, denn es fürchtet sich vor Vatis oder Muttis besorgter Miene, und die unvermeidliche Tirade wohlgemeinter Ratschläge, sollte es unerwartet reagieren, dürfte auf seiner Wunschliste auch nicht ganz oben stehen.
Minderjährige Kinder fürchten sich in aller Regel davor, ihren Eltern zu missfallen und gehorchen ihnen meist klaglos. Zudem können sie sich keine eigene Meinung bilden und zum geistigen Widerstand haben sie ohnehin noch keine Kraft. Spätestens in der Pubertät aber, wenn das ganze Gehirn umgebaut und neu strukturiert wird, beginnen sie selbständig zu denken und die Dinge um sie herum mit ihren eigenen statt mit den Augen der Eltern zu sehen. Da bleibt es nicht aus, dass sie eigene Ansichten und Meinungen entwickeln. Anders kann aus ihnen kein selbständig denkender Erwachsener werden.
Wenn sie dann noch mit ihrer neu gewonnenen Logik und ihrem nüchternen Blick manches anders sehen, als die WTG dies darstellt, hängt es von ihrem Mut und natürlich von der Toleranz der Eltern ab, ob eine ehrliche Aussprache überhaupt stattfinden kann.
Leider kommt es nicht sehr häufig dazu, weil es die liebevollen treuen Zeugeneltern längst verinnerlicht haben, keine andere als die WTG-Meinung gelten zu lassen. Das wissen und spüren auch die Kinder und beschließen für sich insgeheim, wenn sie erst einmal 16 Jahre alt sind, sich vom Druck dieser Religion und ihrer Verfechter zu lösen. Vollständig kann das natürlich erst mit der Volljährigkeit oder nach dem Auszug aus dem Elternhaus gelingen. Bis dahin vermeidet man lieber jegliche Reiberei und schweigt oder sagt zu allem Ja, was die Eltern erwarten.
Das von der WTG vorgeschriebene „Zwiedenken“, wie es George Orwell in seinem Roman „1984“ gebraucht, institutionalisiert geradezu die von der Organisation gewünschte Verwirrung nach diesem Rezept: Verbreite biblisch an den Haaren herbeigezogene Thesen in Form von „neuem Licht“ und gewöhne dann die Menschen daran, beides gleichzeitig zu glauben und trotz innerer Unlogik nicht zu hinterfragen, da es unter Androhung von Strafen verboten wird. Am Ende kann der Sklave jede Lüge erzählen – die Brüder werden gelernt haben, alles zu glauben. Schließlich verdrängen die Menschen die Existenz einer objektiven Realität. Unter solchen Verhältnissen bleiben Lebenslügen ganzer Gesellschaften oft sehr lange nicht hinterfragt, vor allem dann, wenn ihre Aufdeckung Angst hervorruft und mit Strafe geahndet wird!
Unter solchen Umständen kann sich kaum echte Liebe und Zuneigung zu einer Lehre entwickeln, von der die Zeugen überzeugt behaupten, dass sie die denkbar beste und verheißungsvollste sei, die es gibt. Andere Ansichten lassen sie bekanntermaßen auch nicht gelten, sondern betrachten sie lediglich als überwindbare Hindernisse, bis, ja bis wieder eine neue Lüge – man spricht auch gerne euphemistisch von „neuem Licht“ – die alte ablöst. In diesem Fall nimmt man einen neuen Lehrpunkt einfach widerspruchslos und unreflektiert hin, denn der Sklave und seine abhängigen Subalternen dulden hier keinen Widerspruch. – Das Wort Jehovas oder das Wort des Sklaven, es bleibt sich gleich, denn beides ist gegeneinander austauschbar.
Diese rigide Haltung charakterisiert die Zeugen insgesamt, obwohl sie das kaum zugeben dürften, da sie sich selbst lieber in der Rolle großmütiger und duldsamer Christen sehen.
Während ein Vater dem Sohn seinen freien Willen lässt, wenn der sich weigert seine Begeisterung für den Sport und den Verein nicht zu teilen, bleibt den Zeugenkindern wenig Spielraum: entweder sie bleiben passiv und lassen sich ständig liebevoll dazu ermahnen mehr zu tun, oder aber sie entscheiden sich auf sanften, aber steten Druck für den ultimativen Schritt mit allen Konsequenzen, nämlich die Taufe. Leider lässt man ihnen in jungen Jahren nur sehr ungern die Zeit, um selbst entscheiden, ob sie Gott so dienen wollen, wie es die WTG als richtig erachtet und vorschreibt, obwohl es der WT-Artikel doch gerade empfiehlt. Kinder lassen sich eben leichter in die gewünschte Form bringen als Erwachsene, daher darf man hier nicht zu lange untätig zuwarten.
Die Taufe und ihr hoher Preis
Wenn es um die Erziehung der Kinder im „autoritativen Rat Jehovas“ geht, ist die Taufe generell das ultimative Ziel, und Zeugeneltern werden zunehmend dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass ihre Kinder konsequent auch diesen Weg gehen. Trauriger Weise binden sich aber diejenigen, die sich daran halten, an eine Organisation im Stiele Aktiengesellschaft, die ihr Leben bis in den letzten Winkel ihres Privatlebens und ihrer Gedanken reglementiert, um sie für ihre Absichten gefangen zu nehmen. Zumindest bringen das die Autoren auf Seite 19 dieser Wachtturmausgabe etwas umwunden zwar, aber doch unmissverständlich zum Ausdruck:
„Wer oft mit seinen Kindern redet, ist mit ihren Gedanken und Gefühlen vertrauter und kann größeren Einfluss auf ihre Entscheidungen nehmen.“
Diese empfohlene Vorgehensweise kann aber sehr leicht missbraucht werden und ist dann dem Wesen nach nur noch eine auf das Kind abgestellte „Überredungskunst“.
Natürlich wollen die Eltern ihren Kindern helfen, für das Leben die richtigen Entscheidungen zu treffen, der Wachtturm redet hier aber auf Seite 20 im kategorischen Imperativ von Taufe und der Hingabe an Jehova (und seine „weibesgleiche Organisation“):
„Junge Leute, die eine Wertschätzung wie diese entwickeln, geben sich Jehova hin und lassen sich taufen. Natürlich sollten sie diesen Schritt unternehmen, wenn sie reif genug sind und den tiefen Wunsch verspüren, Jehova zu dienen.”
Die WTG hat aber keine Zeit, solange zu warten, bis sich die Kinder von sich aus für die Taufe entscheiden. Daher drängt sie die Eltern förmlich dazu, bei ihren Kindern die „Wertschätzung und den Wunsch“ zu beschleunigen, um endlich die rückläufigen Zahlen junger Verkündiger zu stoppen. Da würde man auch einem Achtjährigen vermutlich nicht ins Gewissen reden wollen, mit diesem ernsten Schritt noch ein wenig zu warten. Den wenigsten getauften Kindern dürfte indes bewusst sein, dass sie von nun an nach den Standards der Wachtturm-Gesellschaft zur Rechenschaft gezogen werden und selbst im zarten Alter bereits die schrecklichen Folgen eines Ausschlusses kennenlernen könnten.
Wie die Erfahrung vielfach gezeigt hat, schafft man so verschlossene Menschen, die ihr ganzes Leben, ihre Energie und ihre Zeit in den Dienst einer Organisation stellen, die sie für ihre Absicht genau genommen geistig und mittlerweile zunehmend auch materiell ausbeutet. Bei engster Bindung an die Organisation werden ihr so über die Jahre neben zahllosen Stunden auch beachtliche Summen Geldes gespendet. Werden auch die Kinder der nächsten Generation nach WTG-Vorgaben indoktriniert, gehen natürlich auch sie denselben Weg, womit der fokussierte Mitgliederzuwachs wieder gesichert sein dürfte und sich der beabsichtigte Wirkungskreis schließt.
Unter den vorgenannten Gesichtspunkten bleibt die Frage zu beantworten, ob die Kinder religiös übermotivierter Eltern zu ihrer „Glaubensüberzeugung“ kommen – indem man ihnen die Zeit lässt, bis ihr eigener Intellekt und ihr Wunsch zusammenwirken können, um ihrem Gott aus eigenem Antrieb zu dienen, oder indem man sie allzu früh bereits von Kindesbeinen an mittels ständiger Manipulationen dazu konditioniert, ohne ihnen eine Wahl zu lassen.
Richard Dawkins bringt es auf den Punkt, wenn er feststellt: “Es gibt nicht so etwas wie ein christliches Kind, es gibt nur Kinder christlicher Eltern.”
Als Vater kann ich das nur bestätigen, denn je mehr ich mein Kind dazu dränge, etwas Bestimmtes zu tun, desto eher wird es sich dem verweigern.
Erst wenn man die Kinder von der Pubertät bis hin zum selbständigen Denken eines Erwachsenen die unterschiedlichen Stadien ihrer Entwicklung durchlaufen lässt, ohne sie ständig zu etwas zu drängen, was sie in letzter Konsequenz noch nicht einmal beurteilen können, werden sie zu Menschen mit freiem Willen heranwachsen können. Der einzige Weg, Kindern den besten Lebensweg zum Glück zu erschließen, besteht darin, ihnen bei sanfter, kindgerechter Lenkung die nötige geistige Freiheit zu geben, ohne sie dabei dogmatisch zu tyrannisieren und sie einer selbst ernannten Organisation Gottes untertan zu machen.